Sonntag 31. Jänner.

Am Montag (01.02.2021) berät die Politik, wie es mit den Öffnungen weitergehen soll. Ich habe zu den Schulen eine starke Meinung, die ich hier mitteilen möchte.

Die Kinder und Jugendlichen in diesem Land haben einen unvorstellbar großen Beitrag geleistet zur Reduzierung der Covid-Infektionen in Österreich. Jetzt ist aber ein Punkt erreicht, da können sie nicht mehr. Liebe Politiker_innen, es reicht! Ich sehe es bei meinen Kindern, ihren Schulkollegen_innen und all den Familien, die ich beruflich begleite: Es geht nicht mehr! Ich fordere Sie auf, die Schulen mit Ende der Semesterferien DRINGEND zu öffnen und liefere hier zahlreiche Argumente.

Kinder brauchen Kontakt!

Sie lernen über Beziehungen! Das wissen wir durch Erfahrung und belegt durch zahlreiche Studien. Kinder brauchen ihre Freunde und eine gelebte Beziehung zu ihren Lehrpersonen! Derzeit arbeiten sie Tag für Tag „Aufträge“ ab. Diese kommen vielfach über Zettel oder Plattformen, völlig aus der Beziehung gerissen. Es gibt kaum dialogisches Wachsen, es fehlt die „Erfahrung“ im praktischen Erleben von Inhalten und einer Gemeinschaft beim Lernen. Sie bekommen Monologe, Texte oder Videos und sollen das mit sich allein bearbeiten. Das ist kein kindgerechter Weg zu lernen. Die Vielfalt der Lerntypen wird durch das aktuelle Distance-Learning nicht bedient! Dennoch haben sie lange brav mitgemacht. Denn sie kooperieren mit uns. Aber nicht ohne Folgen!

 

Die Themen der aktuellen Situation:

1.)   Die Sache mit dem Erstummen

Sehr viele Kinder werden still und passiv. Manche entwickeln Schlafstörungen, Stressmuster, Essstörungen, Mediensüchte, Aggressionen und Ängste. Dies melden derzeit viele Eltern und Fachpersonen. Für mich ist das sehr nachvollziehbar, denn sie arbeiten nur ab und sie sind viel zu viel alleine. Sie werden stumm. Sie haben keine Fragen mehr. Ohne Diskurs, keine Fragen. Ohne Fragen kann man aber nicht lernen, das ist simples 1×1 der Hirnforschung.
Wenn man still wird, teilt man sich weniger mit. Das heißt meist auch, man schluckt seine Emotionen. Das macht bekanntlich krank. Psychisch und physisch.

 

2.)   Die Sache mit der Begleitung der Eltern

Vielfach wurden Eltern kritisiert, die eine Öffnung der Schulen fordern, weil es „doch bitte ihre Aufgabe ist, ihre Kinder zu begleiten“. Ja, natürlich. Das tun sie auch, aber:

a.     Eltern sind keine Lehrpersonen, ihnen fehlt meist das Wissen, wie man Wissen didaktisch vermittelt. Vor allem, ist das ja kein häuslicher Unterricht, bei dem die Eltern entscheiden, WIE sie ihre Kinder unterrichten, sondern die Eltern werden zum verlängerten Arm der Schule. Sie begleiten das Lernen, das sich die jeweilige Lehrperson vorstellt. Das bringt Eltern in innere Konflikte, weil sie das oft nicht für den geeigneten Weg halten, dennoch ihre Kinder genau darin unterstützen sollen.

b.     Eltern haben eine „persönliche“ Beziehung zu ihren Kindern, in der es um ihr Wohlbefinden und ihre bestmögliche Entwicklung geht. Wie soll man seine eigenen Kinder zu etwas ermutigen, das ganz klar jedes Kindeswohl missachtet! Zuhause eingesperrt stundenlang Aufträge abarbeiten. Schreiben bis der Arm kracht,… Das schadet der Beziehung zwischen den beiden.

c.     Eltern müssen fast alle arbeiten, während ihre Kinder zuhause in der Schule sind. Viele Eltern haben auch mehrere Kinder und Schulkarrieren parallel zu begleiten. Kleinkinder, die Lärm machen und spielen wollen, sind oft auch da. Das heißt, die Kinder sind sich selbst überlassen, es ist beruflich bedingt keiner da, sie sind oft sogar alleine zuhause oder die Eltern antworten aus dem Spagat Homeoffice oder der Betreuung mehrerer Kinder heraus: „Ich kann jetzt nicht“. Die Kinder werden allein gelassen in ihren Fragen und Bedürfnissen und machen daher zu. Eltern werden immer gestresster, weil es unmöglich ist, all diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Dieser Stress, das liebe schlechte Gewissen und dieses Alleingelassen werden wirken sich auf alle Beteiligten negativ aus.

d.     „Frag die Lehrperson, nicht die Eltern.“ Das geben viele Schulen, gut gemeint, den Kindern mit. Jedoch haben Kinder schon in der Schule eine hohe Hürde Fragen zu stellen, weil unser Lehrsystem so ist, wie es derzeit ist. Diese Hürde, extra ein Mail zu schreiben oder sich in der Videokonferenz zu exponieren, ist ungemein höher. Ich sehe nicht wie in der Klasse zumindest in ratlose Gesichter um mich herum, wo sich dann einer für alle traut, ich frage für mich ganz alleine, wenn ich frage. Dabei denke ich, ich habe es als einzigeR nicht verstanden. Sich dem auszusetzen braucht viel Selbstwert, Mut, positive Erfahrungen und wirklich großes Interesse. Diese Hürde ist oft zu hoch und auch das trägt zum Verstummen bei.

e.     Die Eltern sind auch oft passiv, weil sie mit vielfachen Problemen dieser schwierigen Zeit kämpfen. In Beruf, Bildung und Betreuung alleingelassen, mit den wirtschaftlichen und organisatorischen Themen rund um Covid völlig überfordert. Ich erlebe viele Eltern, die derzeit alles mehrfach wieder umplanen müssen, aufgrund immer wieder neuer Verordnungen und die immer zermürbter werden. Beruflicher und finanzieller Druck belastet zudem viele Familien.

f.      Alle Kinder brauchen verschiedene Vorbilder und Freundschaften, um sich gut entwickeln zu können. Je älter Kinder sind, umso wichtiger wird das. Spätestens Teenager brauchen dringend endlich „weniger“ Eltern! Ab ca. 10 Jahren beginnen Kinder zu pubertieren, da sind Sichtweisen anderer Erwachsener, Freunde und deren familiäre Hintergründe und „erwachsenenfreie Freiräume“ notwendig! Ständig mit den eigenen Eltern und in den eigenen vier Wänden zu sein, nimmt Kindern das Erforschen, Entdecken und Aneignen anderer Haltungen bzw. Sichtweisen und das Ausprobieren des „eigenen“ Lebens. Jugendliche müssen dringend raus aus dem Rahmen, den ihre Eltern um sie legen.

 

3.)   Die Sache mit der Selbstorganisation

Zweifelsohne brauchten unsere Kinder noch nie so viel Selbstorganisation. Sie haben hier unendlich viel dazugelernt. Aber es überfordert auch viele Kinder maßlos. Die, die sich nicht top selber organisieren können, bei denen bleibt klar viel auf der Strecke. Und es ist fordernd und konstant anstrengend. Die Kinder sind müde davon.

 

4.)   Die Sache mit der Ausstattung

Notebook, Top-wlan Anschluss, Drucker,… Kinder mit Top-Ausstattung und starker wlan- Anbindung sind klar im Vorteil, andere klar im Nachteil. Manche Kinder fliegen ständig raus aus Video-Konferenzen, weil das Internet zu schwach ist. Andere haben keinen Drucker um die Arbeitsblätter auszudrucken, andere haben keine Computer zur Verfügung, andere müssen ihn mit mehreren Personen teilen. Es gibt große Unterschiede, die den Schülern_innen konstant unterschiedliche Lernbedingungen schaffen.

 

5.)   Die Sache mit der Motivation

Kinder und Jugendlich arbeiten seit Wochen (die Oberstufen seit Monaten!) durchgehend alleine zuhause. Sie sehen und spüren die anderen dabei nicht. Die Motivation junger Menschen im „Zwangskontext Schule“, in dem auch im Normalbetrieb oft Vieles nicht so ist, wie sie es brauchen würden, hebt sich oft, wenn sie merken, sie sitzen alle im gleichen Boot. Gemeinschaftsgefühle und Austausch sind sehr wichtige Helfer, um motiviert zu sein. Online spürt man die anderen nicht, auch wenn sie da sind. Um aufmerksam in einen Bildschirm zu schauen, vergeht bei stundenlangen, virtuellen Besprechungen und Vorträgen mit der Zeit völlig die Konzentrationsmöglichkeit und damit auch hier die Motivation. Wenn man Erledigtes auf einen Server lädt oder wie die kleineren Kinder auf einen Stapel Papier, der täglich wächst und für den man oft gar keine Rückmeldung bekommt, weil es ausschließlich darum geht, etwas abgearbeitet zu haben, was aus Sicht der Lehrkräfte bei der Fülle oft garnicht anders möglich ist(!), sinkt die Motivation auch.

 

6.)   Die Sache mit der Digitalisierung

Unsere Kinder haben sehr viel dazugelernt. Apps installieren, Dateien erstellen, speichern, hochladen, Mails verfassen, durch Plattformen navigieren, das www zu nützen, … Und so wurden z.B. Volksschulkinder nach dem Schulwechsel rasant zum „digital native“ (digitaler Muttersprachler). Die Technik hat aber immer wieder ihre Tücken und so brauchten sie nicht nur immense Unterstützung als Starthilfe, sondern brauchen auch im Laufen immer wieder Hilfestellungen. Und in Windeseile kam es von der „handyfreien Schule“, zum Handy als notwendiges Arbeitsgerät für die Schule. Müssen doch fertig ausgefüllte Zettel fotografiert und hochgeladen werden, usw. Sie brauchen ein Notebook mit Internetanschluss zum Arbeiten, dort finden sich aber auch Youtube, soziale Medien und Spiele, die mangels konstanter Begleitungsmöglichkeit (Eltern müssen arbeiten!) als große Versuchung mitten im Schulalltag da sind. Gerade weil sie ihre KollegInnen nicht treffen können, ist die Sehnsucht nach Austausch groß. So werden Schulaufgaben halbherzig und rasch durchgezogen, um dann mit den Freunden zumindest so in Austausch zu sein. So kommt es auch, dass die Freunde andauernd die eigene Konzentration stören. Einen sinnvollen Umgang zu finden oder auch mal das Setzen von Grenzen, … überfordert Kinder und Erwachsene, da das Ganze mit dem Lernen verschmilzt. Allein das würde viel Begleitung brauchen, die Schule und die Eltern aus verschiedensten Gründen nicht liefern können derzeit.

 

7.)   Die Sache mit dem Kooperieren

Kinder kooperieren mit den Erwachsenen und den Settings in die wir sie bringen. Weil sie wissen, dass sie gar nicht die Macht haben, große Entscheidungen zu treffen und weil sie soziale Wesen sind und einen Beitrag leisten wollen. Sie wollen uns als Gesellschaft helfen, sie wollen ihren Großeltern helfen, sie wollen ihren Familien helfen. Sie nehmen daher ihre Bedürfnisse zurück, bis sie nicht mehr können. Dann werden sie aggressiv, wütend oder widerständig. Das ist aber kein unfolgsames Verhalten sondern Selbstschutz. Verhalten sich Kinder so, sagen sie zu uns: Ich bin in Not, ich bin überfordert, es ist eine Grenze überschritten. Herausfordernde Kinder sind stets herausgeforderte Kinder! Wir sind in Verantwortung für sie. Derzeit erzählen fast alle Kinder mit ihrem Verhalten: Ich kann so nicht mehr! Es ist dringend an der Zeit, dass wir hinhören!

 

8.)   Die Sache mit der Chancengleichheit

Kinder mit mehr Begleitung, mit sprachlichen oder bildungsbezogenen Vorteilen bei den Begleitpersonen, mit mehr Raum, Ruhe und Arbeitsatmosphäre und guter technischer Ausstattung, sind klar im Vorteil! Das bedeutet große Unterschiede und sehr ungerechte Bedingungen. Es gibt Schüler_innen, die werden von der Schule überhaupt nicht mehr erreicht! Als Gesellschaft sollten wir es nicht zulassen, dass viele Kinder da massiv schlechter aussteigen. Bildung für alle braucht gerechte Zugänge und Begleitung für alle. Das sind europäische Grundwerte, die hier derzeit klar nicht mehr erfüllt werden und große Unterschiede ausbilden! Diese werden erst in den nächsten Schuljahren stärker sichtbar werden, gehören aber jetzt dringend ernst genommen!

 

9.)   Die Sache mit der körperlichen Gesundheit

Kein Schulweg, kein Turnen, stundenlang auf ergonomisch falschen Sesseln sitzen, viel zu wenig Bewegung,…. Kinder sind Körperwesen. Sie brauchen ganz natürlich sehr viel Bewegung. Im distance learning bauen unsere Kinder sichtbar motorisch ab und bewegen sich viel zu wenig. Mit ihrer körperlichen Gesundheit geht es bergab.

 

10.) Die scheinheilige Sache mit der Betreuung in den Schule

Die politische Botschaft lautet: „Alle die irgendwie können zuhause bleiben, die Schulen machen keinen Unterricht, dieser wird mittels distance learning nachhause gebracht.“ Und die zweite Botschaft lautet: „Für die Eltern für die es wirklich absolut notwendig ist, ist es möglich seine Kinder in die Betreuung zu bringen.“  Das Problem dabei: Betreuung heißt kein Unterricht, sondern dass die Kinder selbstständig die Aufgaben des distance learnings in der Schule machen. Da wird nur erklärt und geholfen, wenn man ausdrücklich danach fragt. Meistens sind ganz andere Lehrpersonen anwesend, da die eigenen gerade das Homeschooling liefern. Förderung und persönliche Begleitung ist meistens unmöglich. Die Schülerinnen sind betreut, die Fragen bringen sie dennoch meist erst abends mit nachhause. Es wird uns allen von Seiten der Medien, Politik und den Schulen vermittelt: Es ist wichtig dass wir zuhause bleiben, darum sind die Schulen ja gesperrt! Jede_r der/die kann, lässt daher seine/ihre Kinder zuhause. Viele verbiegen sich dafür in alle Richtungen. Kinder brauchen dringend Unterricht in der Schule, nicht Betreuung! Eltern und Kinder wieder ein gutes Gefühl, wenn sie in die Schule gehen.

Mein Fazit: Die Kinder müssen zurück in die Schule, koste es was es wolle!

Wir haben es nicht mehr 5 vor 12, sondern die Uhr schlägt heute zur vollen Stunde, laut und deutlich! Die Kinder haben von Mitte März bis Mitte Februar, ganze 11 Monate einen riesen Beitrag geleistet. Wenn es noch weiter dringend Beiträge braucht, dann sind diese jetzt durch andere zu erbringen. Wie wäre ein verpflichtendes Homeoffice für Firmen? Auch das würde viele Menschen aus Kontakten und öffentlichem Verkehr bringen. Berufliche Fortbildungen sind weiterhin erlaubt. In Wifi-Kursen und Schilehrerausbildungen sitzen nach wie vor oft 20 Leute oder mehr in einem Raum OHNE Testungen! Wir haben mittlerweile günstige und unkomplizierte Tests. Warum nehmen wir nicht noch mehr Geld in die Hand, um in solchen Settings täglich kostenlose Tests anzubieten? Warum hat meine Mutter und alle anderen in diesem Haus (79 Jahre, wohnhaft im betreuten Wohnen) bis heute noch keine FFP2 Masken von der Regierung erhalten, versprochen wurden sie lange vor Weihnachten…-? Ach ja, und da wäre noch die Sache mit dem Impfen. Für die Kinder in diesem Land ist jeder Tag Verzögerung eine große Belastung. Wie geht es da voran?

Es gibt sicher auch andere Schrauben zu drehen, die helfen die Infektionen zu reduzieren! Die Kinder haben genug getragen!

 

Es reicht!

Wir nehmen unseren Kindern die Freude an der Gegenwart und machen ihre Zukunft kaputt! Nicht primär, weil sie formal zu wenig „lernen“, das ist das einzige Argument, das ich bisher gehört habe von unserer Leistungsgesellschaft zur Öffnung der Schulen. Es geht schon längst darum, dass es ihnen nun tatsächlich immer schlechter geht. Das wird nicht ohne weitreichende Auswirkung bleiben. Das können wir nicht weiter verantworten wollen, da werden zahlreiche Kinderrechte und Bedürfnisse mit Füßen getreten. Die Last des größten Beitrags für diese Pandemie gehört unseren Kindern von der Schulter genommen, ihr Beitrag war und ist groß genug. Man bedenke, für sie selbst ist diese Pandemie nicht einmal wirklich eine große Bedrohung. Sie sind daher seit Monaten eine der solidarischsten Gruppen in unserer Gesellschaft. Jetzt brauchen sie unsere Solidarität!

Es ist dringend an der Zeit die Schulen zu öffnen und mit Hilfe von Testungen langfristig offen zu lassen!
Ruth Karner

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