Sophie hat einen unerwartet heftigen Wutausbruch, naja vielleicht eher sogar einen Zusammenbruch. Sie sitzt in einer Ecke ihres Zimmers, davor hatte sie ihre Freundin nur mehr angebrüllt. Die Mutter weiß, eigentlich ist sie überfordert, denn sie hat eine Verkühlung und die Bildungseinrichtung war daher sicher schon sehr fordernd. Der Besuch und die daraus resultierenden Konflikte mit dem Geschwisterkind waren wohl nun endgültig zu viel. Der Besuch geht nach Hause. Die Mutter legt sich zu ihr auf den Teppich und versucht das Gespräch zu suchen. Das Kind lässt diese mit ihrem Dialog gar nicht beginnen, sondern sagt: „Hör auf, sag nichts. Du willst mir doch bloß sagen, dass ich falsch bin“.

Die Mutter liegt wie schockgefroren daneben. Sie versucht sehr, dass das Kind sich gesehen fühlt und ernst genommen und dann das. Wenn sie eines will, dann dass das Kind sich niemals „falsch“ fühlen muss.

Sie denkt sich plötzlich: Wenn mein Kind so etwas sagt, wieviel Erziehung steckt dennoch in jeder meiner Handlungen, in jedem meiner Sätze? Ist da nicht oft automatisch ein Unterton des Korrigierens? Sage ich damit doch irgendwie: Du bist ist falsch? Und ist all diese „neue Erziehung“ eigentlich „alte in neuem Gewand“ verpackt, in eine liebevolle Sprache, in ich-Sätze und persönlich formuliert? Ist alles eine Täuschung und alter Wein in neuen Flaschen?

Sie sagt aber laut: „Ich höre von Dir, Du glaubst Du bist falsch oder Du glaubst, dass ich glaube Du bist falsch. Aber für mich bist du richtig von Kopf bis Fuß. Denn zu zeigen, wie es Dir wirklich geht, kann gar nicht falsch sein! Du bist wunderbar und liebevoll und es ist einfach heute alles zu viel geworden und das ist menschlich!
Weißt Du noch, wie ich vor ein paar Tagen so verärgert und komisch war, da war ich auch nicht ganz bei mir. Das ist ok. dass man so fühlt. Ärger und Wut ist ok. Schlucken von Wut macht krank. Schade ist nur, wenn man andere dabei verletzt, die nicht dafür verantwortlich sind. Vielleicht lösen andere was aus, aber sie sind nicht die Ursache. Es fühlt sich nicht gut an, wenn man andere verletzt. Ich kenne das gut. Aber manchmal findet man nicht den richtigen Weg. Einfach weil man gerade eben nicht kann. Darf ich Dich vielleicht ein wenig trösten? Mutter und Kind können sich festhalten und lange schweigen.

Die Gedanken kreisen und die Mutter nimmt sich die Aufgabe mit, noch viel mehr darauf zu achten, wo sie das Kind durch ihr Verhalten oder ihre Rückmeldung korrigiert und ihm somit doch auch spiegelt, was sie für falsch oder richtig hält. Da ist noch viel Luft nach oben! Aber die Mutter erhält auch die Aufgabe über sich selbst nachzudenken. Kinder lernen nicht nur durch das was wir ihnen sagen, sondern überwiegend durch das was wir vorleben und gemeinsam erleben. Es macht also Sinn, dass wir uns fragen: Halte ich auch mich oft für falsch, nicht richtig? Ist das ein Bild von mir das ich vermittle? Wie oft gestehe ich mir selber zu, dass ich nicht immer alles „perfekt“ regeln kann, weil ich in und mit meinen eigenen Höhen und Tiefen reise?
Damit bin ich meinem Kind ein Vorbild im „normaler Mensch sein“. Damit sind wir eine echte, gleichwürdige Familie.

Das Kind sollte sich keinesfalls selbst geiseln. Auch die Mutter sollte sich nicht selbst geiseln. Schuldgefühle lähmen bloß. Dennoch kann man die Verantwortung fürs eigene Handeln übernehmen. Man hat jemand vor den Kopf gestoßen. Es macht Sinn, sich bewusst zu machen, dass da jemand mit möglichen Verletzungen kämpfen könnte.
Die Freundin braucht vielleicht eine Erklärung was heute los war und Empathie dafür, dass für sie das nicht so fein war. Schön ist, wenn man das zeigen kann. Zumindest danach. Und gut ist es, wenn wir daraus lernen. Wenn du zu müde oder unfit bist, dass wir den Besuch verschieben oder wir beide schauen was Dir hilft.
Das Kind hat die Nerven geschmissen, nicht mehr und nicht weniger. Und es ist in Ordnung mal die Nerven zu schmeißen.
Und die Mutter? Es ist schön, wenn sie sagen kann: Es tut mir leid, wenn du das Gefühl hast nicht richtig zu sein und wenn mein Verhalten dazu beiträgt, dass das so ist. Ich werde versuchen genauer darauf zu achten. Hilf mir und zeig mir sofort, wenn Du Dich so fühlst, damit ich besser darauf aufpassen kann. Denn Du bist richtig, total ok, als die die Du bist!

Aus der Aussage am Teppich ist zu lesen, dass es wohl für alle in dieser Familie ansteht sich zu fragen: Bin ich in Ordnung so wie ich bin? Mit all meinen Stärken und Schwächen und dem nicht immer perfekten Verhalten. Wie schnell baut sich bei der Mutter selber das Gefühl auf: „Ich bin aber nicht in Ordnung, ich habe alles falsch gemacht.“ Der liebevolle Blick darf und sollte für ALLE gelten, gerade wenn wir uns miteinander entwickeln und voneinander lernen. Ich will Dich lieben und Dir erlauben, dass Du Du bist. Und ich erlaube es auch mir, gleichermaßen, denn ich will Dir Vorbild sein. Selbstliebe als Schlüssel für einen guten Selbstwert unserer Kinder. Einfühlung und Dialog sind eine völlig neue Form der Erziehung, wenn wir die Gleichwürdigkeit wirklich verstehen und leben. Es fehlen uns aber völlig die Vorbilder. Daher braucht es Reflexion, Geduld, Gelassenheit und einen liebevollen Blick und die Erlaubnis für Sackgassen und Umwege. Die erhöhen bekanntlich die Ortskenntnis. Wir geben unser Bestes! Und in jeder dieser Momente können wir wachsen und Selbstliebe lernen. Die Frage ist einfach, wie schaue ich auf mich?
Bleiben wir dran, diese Form der „Erziehung“ lohnt sich in jeder Stufe.
Man erntet Entwicklung und Wachstum FÜR ALLE!

Foto: norndara / photocase.de