Elvira und ihre Mama stehen beim Bäcker. Sie will ein Schokocroissant. Unbedingt. Sofort! Im Kindergarten war heute eine Geburtstagsfeier, da gab es Kuchen. Zudem hat ihr die Oma einen Schlecker geschenkt, den sie irgendwie beim Heimgehen aus ihrer Jackentasche gefischt hat und der dann sofort in ihren Mund gewandert ist.

Ben hat einen Legoturm gebaut. Lukas hat ihn umgeworfen. Ben ist nun dabei Lukas zu hauen, zu treten und zu beißen.

Ali sitzt im Sandkasten und schaufelt. Simone kommt und nimmt ihm die Schaufel weg. Ali stürzt sich auf sie und beißt sie fest in die Wange.

Nela hat gestern kurz nach 23 Uhr ihr Handy verwendet. Ihr Papa hat das am Tag darauf anhand der letzten WhatsApp Zeit gesehen. Sie hat aber heute Schule und sie und ihre Eltern haben ausgemacht, dass nach 21 Uhr das Handy aus bleibt.

Manche Dinge sind UNS wirklich wichtig.
Diese wollen wir unseren Kindern zeigen. Daher setzen wir auch mal Grenzen, zeigen Werte auf und sagen nein. Oft packen wir dafür autoritäre oder moralische Erziehungssprüche aus: „Das darf MAN nicht. Das ist böse, schlimm,…“ Manchmal greifen wir zu Bestechungen oder Bestrafungen: „Wenn, dann / Fernsehen ja oder nein“, … Manchmal werden wir dabei übergriffig: „Warum benimmst du dich so furchtbar?“ und irgendwie bleiben wir danach oft zurück mit einem unguten Gefühl. Oft entwickeln sich auch Streit, Ärger oder Widerstand daraus.

Manche Dinge sind UNSEREN KINDERN wirklich wichtig.
Die zeigen sie uns. Die Devise dabei ist: Mein Verhalten erzählt von mir, von meinen Grenzen, Bedürfnissen und Wünschen. Kinder leben das in einer ganz direkten Art, hier heute und jetzt, voller Körpersprache und mit „ganzem“ Einsatz.

Wir wollen unseren Kindern Leuchtturm sein. Wir fühlen uns für das Wachsen ihres Selbstwertes und ihrer Persönlichkeit zuständig und das ist wunderbar! Dieses Achten auf diese Bereiche kann als wichtige Pionierarbeit der gegenwärtigen Elterngeneration gesehen werden. Aber wir sind als Eltern auch für ihre Versorgung und ihre Gesundheit verantwortlich und wollen oder müssen sie manchmal auch schützen.
Ein „Eltern – Leuchtturm“ gibt daher Orientierung. Er zeigt was ihm wichtig ist. Ganz persönlich.
Was ist MIR wichtig? Hier, heute und jetzt.
Und ein Eltern-Leuchtturm ist Vorbild in seiner Art mit Menschen umzugehen, er nimmt seine Kinder ernst, wahrt ihre Würde, ihre Bedürfnisse, ihre Grenzen und ihre Persönlichkeit.

Daher ist es wichtig, dass wir uns von dieser alten Sprache des „man muss, man darf, darf nicht“ usw. verabschieden. Denn wer weiß was wirklich allgemeingültig richtig ist, wer setzt diese Normen und Regeln, wer erhebt sich als Gesetzgeber über andere? Nur jemand der mich zum Gehorsam und zum Funktionieren erziehen will, egal welchen Preis das hat! Sicher aber nicht ein liebevoller Elternteil, der mich begleiten will auf meinem Lebensweg, bei dem ich in erster Linie erkennen darf: Wer bin ich? Was fühle ich? Was will ich? Und das lerne ich einzig und allein dadurch, dass ich gesehen und ernst genommen werde.
Aber gerne darf ich trotzdem auch erfahren: Wer ist da noch? Was ist anderen wichtig? Wo sind die Grenzen anderer? Wie kann ich lernen diese zu wahren? Und durch unsere Lebensgemeinschaft und vor allem durch unserer Rolle als BegleiterInnen ins Leben wollen wir unseren Kindern unsere Familienkultur und Werte, unsere Sicht auf die Bereiche Schutz und Versorgung vermitteln. Wir nehmen sie aber dabei aber nur ernst und sehen sie wirklich, wenn es uns gelingt dies in einer ganz persönlichen Sprache zu machen.
Es geht nicht darum, was man macht oder nicht macht. Es geht nicht darum, dass Du kapieren sollst, dass Du in Deinem Verhalten „böse“ bist. Denn kein Kind ist böse.
Elvira will ihre Mutter in der Bäckerei nicht ärgern, sondern will ihr einzig zeigen, dass sie Lust auf noch mehr Zucker hat. Ben haut Lukas, weil er verletzt ist, dass sein Bauwerk kaputt ist und weil er will, dass Lukas das auch wirklich kapiert. Ali beißt Simone im Sandkasten, weil er noch zu klein ist, sprachlich aufzuzeigen, dass das seine Schaufel war. Er zeigt den Übertritt seiner Grenze auf und spricht dabei mit seinen Zähnen. Nela will dazugehören. „Alle“ anderen posten um diese Uhrzeit, tut sie es nicht, fühlt sie sich ausgeschlossen.
Jedes dieser Kinder handelt mit gutem Grund. Durch „Erziehungsmaßnahmen“ wie oben genannt, zeigen wir bloß: es ist falsch für dich einzutreten, du verhältst dich falsch oder böse, letztlich: Du bist falsch.

Sollte ich dann nie nein sagen?
Wenn ich nie nein sage, kann ich kein Leuchtturm sein, kann ich nicht vermitteln was mir wichtig ist, wo meine Werte und Bedürfnisse liegen, was die Familie bzw. andere Personen im Moment brauchen, was mir wirklich wichtig erscheint in den Bereichen Schutz und Versorgung, usw.
Da Kinder sehr stark durch Vorbilder und Erleben lernen, ist es für sie zudem kaum möglich zu anderen echt nein zu sagen und für sich und ihre Werte zu sorgen, wenn sie uns nie dabei erleben, wie wir das tun. Wenn man nicht für seine Grenzen und Bedürfnisse eintritt, lehrt man lediglich Selbstaufgabe.

Wie kann mein Nein dann aussehen?
Will man die Würde eines Kindes wahren, seine Selbstwahrnehmung und den Selbstwert nicht beschädigen und eine dialogische Erziehung leben, macht nur eine Form Nein zu sagen Sinn:
Sein Nein ganz persönlich gestalten.
Nicht, man darf das nicht. Oder wir machen das nicht. Wer ist denn „man“? Wer ist „wir“? In Zeiten wo es keinen generellen Konsens in der Erziehung gibt, macht MAN in Wahrheit alles Mögliche. Es geht dabei darum, mein persönliches Nein sichtbar zu machen. Ich sage nein, weil es mir wichtig ist, dass du auch gesunde Sachen isst, nicht nur Zucker. Ich sage nein, weil ich sehe, dass dein Hauen Lukas weh tut und verletzt. Ich sage nein, weil beißen Simone weh tut. Ich sage nein, weil ich mich dafür verantwortlich fühle, dass du ausgeschlafen bist in der Schule. Das alles zeigt „meine Seite“.
Und parallel: Ich sehe dich!
Ich nehme auch die Geschichte wahr, die du erzählst. Und da bekommst Du kein: Du bist schlimm, falsch, zu wenig richtig, böse,… sondern ein: Du möchtest noch ein Croissant, die sind ja auch gut, das kann ich verstehen. Und ein: Oh weh! Du hast so lange an dem Turm gebaut, ich verstehe, dass Dich das jetzt echt geärgert hat, dass er kaputt ist. Oder ein, oh, jetzt hast Du grad so toll geschaufelt, dann war sie plötzlich weg die Schaufel. Oder ein: Ich kann mir vorstellen, dass es sich komisch anfühlt nicht dazuzugehören, etwas nicht mitzubekommen. Ich kenne dieses Gefühl, wenn meine Kolleginnen rauchen gehen und ich als Nichtraucherin nicht dabei bin. Da fühlt man sich ausgegrenzt. usw.
Und beides hat seine Berechtigung. Nur weil ich als Elternteil sehe, was du erzählst durch Dein hauen oder beißen, zeige ich dennoch die Grenze auf die hier überschritten wurde.
„Ich verstehe, dass Du Dich ärgerst, ich sehe das hat dich verletzt, trotzdem –stopp- geht hauen nicht.“ Manchmal braucht es die Erlaubnis eines: Was stattdessen? Im Sinne von, hau auf die Couch und schreie: „Ahhh, nein!“, stampfe,… aber hau nicht den Lukas.

Warum sage ich nein? – eine wichtige Frage
Ich sollte mich fragen: Ist mir mein Nein wirklich wichtig? Macht es für mich Sinn, auch wenn ich mir das Erleben meines Kindes bewusst herhole? Ist die Antwort darauf nein, eigentlich eh nicht, dann ist es an der Zeit mein Nein einfach „loszulassen“! Nein sagen, nur weil MAN das machen sollte, weil ein guter Elternteil sich so verhalten sollte, macht keinen Sinn. Persönlich nein sagen, kommt tief aus mir. Aus meiner Klarheit und Überzeugung. Kann ich dazu nichts finden, kann ich getrost ja sagen oder mir Bedenkzeit nehmen.
Ist diese Klarheit zu meinem Nein aber gegeben, bin ich meinem Kind Leuchtturm, sage einfach mal nein. Ich mache das für mich und/oder für mein Kind. Zum Beispiel weil ich die Person bin, die in Konsequenzen denkt. Das müssen Kinder nicht. Die sind aus gutem Grund viel mehr im heute, hier und jetzt. Weil ich für meine Werte oder Bedürfnisse eintrete oder meine oder die Grenzen anderer schütze.

Macht ein Dialog beim Nein sagen Sinn?
Nein sagen sollte weder zu einem Monolog werden über mich, noch zu einem autoritären Gesetz. Ein Elternteil sagt nein und erzähle dabei von sich, das Kind sagt oder zeigt auch etwas, bei dem es von sich erzählt. So entsteht diese Wahrung der Würde und wächst das „ich sehe dich“. Ein Dialog ist ein Gespräch, bei dem am Ende beide Seiten ein Stück weiser sind. Es ist aber klar keine Verhandlung und kein Machtkampf. Ich bin Elternteil und Du Kind. Das macht uns gleichwürdig, aber oftmals nicht gleichberechtigt, weil ich für Dich sorge, vorausdenke und in Verantwortung bin. Generell ist dabei aber immer auch die Frage wichtig: Wieviel Eigenverantwortung traue/mute ich meinem Kind zu? Kann es manches nicht doch auch gut selber entscheiden, braucht es dafür mein ja oder nein vielleicht gar nicht? Man kann davon ausgehen, dass die Eigenverantwortung oft zu wenig Raum bekommt. Manche Kinder kämpfen in ihrem Widerstand dann oft auch für ihre Eigenverantwortung. Und auch darüber macht es Sinn beim Nein sagen nachzudenken und da helfen Dialoge mit unseren Kindern sehr!

Soll ich mein Nein erklären?
Natürlich haben junge Menschen die ich ernst nehmen will, ein Recht auf eine Erklärung. Wichtig dabei ist, diese Erklärung für die Kinder zu geben, nicht für uns. Ziel sollte nicht sein, dass sie unser Verhalten als vernünftig einsehen und „mittragen“, dann würden wir nur für uns erklären. Dies überfordert Kinder oft gewaltig! Wichtig ist daher die Frage: Dient diese Erklärung WIRKLICH dem Kind und ist sie in einer Länge, die dem Alter des Kindes entspricht?

Wirkt ein persönliches Nein so, dass es dann keinen Widerstand mehr gibt?
Leuchtturm sein heißt auch es zu ertragen, dass es nicht die Aufgabe der Kinder ist uns immer zu 100% zu verstehen. Es heißt auch gut damit umzugehen, dass es einfach eine ganz normale Reaktion ist, wenn ich auf einen Wunsch ein Nein bekomme, dass sich dann Frust meldet. Wut, Trauer und Ärger sind Wege diesen Frust zu bearbeiten und loszulassen. Danach ist die Luft klar und Ruhe kann einkehren. Nehmen wir diesen Frust nicht persönlich, lassen wir uns nicht auf einen Machtkampf ein, sondern begleiten wir unsere Kinder in ihrem Erleben, verfliegen dieser oft im Anschluss gut wieder und nichts bleibt haften. Frust sollte man ausleben dürfen. Ihn zu schlucken ist schlicht ungesund. Wichtig ist einzig, dass das Ausleben möglichst gewaltfrei abläuft und weder unsere Kinder, andere Personen oder auch Dinge davon Schaden nehmen.

Das schwierige Nein
Nein sagen ist wichtig, weil es ganz persönliche Werte, Grenzen und Bedürfnisse aufzeigt oder für sie eintritt. Ein Nein macht uns auch sichtbarer, gibt uns Kontur. Hilft den Kindern zu erfahren: Wer sind meine Eltern und was ist ihnen wichtig?
Es fällt uns dennoch oft sehr schwer, weil wir unsere Kinder lieben und ihnen das beste auf der Welt wünschen. Wenn man sich liebt oder dem anderen Gutes will, dann sollte man doch JA sagen, am besten bedingungslos, oder nicht? So denken wir tief in uns. Dabei haben wir ein Bild einer glücklichen Kindheit im Kopf. Dabei glauben wir, diese bedingt immer lächelnde, glückliche Kindern.
In dem Moment in dem wir ein Nein bekommen, sind wir oft aber gar nicht glücklich. Aber das ist gut so! Eine glückliche Kindheit ist eine in der ich und meine Bedürfnisse gesehen werden, in der ich ernst genommen werde und gesehen werde. In der mir keiner meine Empfindungen ausredet („ist doch nicht so schlimm“) sondern diese wahrnimmt und würdigt (ich sehe, für dich ist das grad echt ganz ärgerlich“). In der ich nicht immer glücklich sein muss, sondern weinen darf wenn mir zum Weinen ist oder mich ärgern darf, wenn mich was aufregt. Und in der mich wer begleitet, ohne wenn und aber und mir zeigt, dass er mich bedingungslos liebt, gerade auch in seinem Nein.

Reflexion
Sich immer wieder fragen, wie mache ich es denn derzeit ganz konkret, womit bin ich zufrieden, womit nicht, wie fühlt es sich für mich an, wie geht es uns, wie erlebe ich mein Kind, usw. macht für Eltern immer Sinn.
In meinen Seminaren und in der persönlichen Fallbearbeitung in der Praxis geht es daher immer auch ein Stück um Führung, Grenzen, Nein sagen und Eigenverantwortung. Ich freue mich immer, wenn Eltern sich in diesem komplexen Bereich auf Reflexion einlassen und wenn ich im ganz persönlichen und individuellen „Fine-Tuning“ behilflich sein kann und wir gemeinsam schauen, an welchen Rädchen könnte man denn noch ein wenig drehen, denn ich spüre in diesen Kontexten immer ganz stark, dass da große Geschenke für Eltern und Kinder liegen! Mehr Klarheit, Freude und Gelassenheit zieht oft schnell ein.
In diesem Sinne hoffe ich dieser Text war Ihrer/Deiner Eigenreflexion zuträglich und vielleicht ergibt es sich mal, dass sich auch eine Begleitung von außen stimmig anfühlt.

Herzlichst,
Ruth.

Copyright: Dieser Text basiert auf meinen eigenen Erfahrungen und Grundhaltungen nach Jesper Juul und wurde von mir persönlich und frei verfasst. Er kann gerne auszugsweise oder ganz verwendet werden, ich erbitte dies jedoch ausschließlich unter Angabe dieser Quelle und meiner Autorenschaft zu tun.

Foto: Ruth Karner