Die Dänen sind ja bekanntlich ein sehr zufriedenes Volk. Im world-happiness-Report 2018 belegen sie Platz 3 hinter Norwegen und Sieger Finnland, waren aber auch viele Jahre davor oft auf Platz 1. Das Geheimnis sei die skandinavische Lebensphilospophie. „Hygge“ ist ein Wort dafür. Für die Dänen ein wichtiger Grundwert. Was aber ist das?

Hygge leitet sich von einem norwegischen Wort ab, dass im 16 Jhd. für trösten stand, hat seine Bedeutung aber verändert. Heute gibt es keine klare, deutsche Übersetzung, aber es steht für etwas im Bereich Gemütlichkeit, Wohlbefinden, Geborgenheit und Genießen.

Es ist als eine Art Gegenbewegung unserer modernen Schnelllebigkeit. Es steht für alles hinter sich lassen, den Moment genießen, das Einfache wieder schätzen lernen, sich auf Beziehungen im Umfeld zu konzentrieren, für einen Rückzug ins Private, für ein WIR und ein Miteinander, für gute Gefühle und klassisch nordisch für eine gute Atmosphäre. Auf www.visitdenmark.de stehen 5 Tipps die „Hygge“ bekräftigen: Kerzen, ein gutes Essen mit Freunden und Familie, Spazierengehen (bei jedem Wetter), sich Zeit nehmen und sein Zuhause liebevoll gestalten. Die Dänen verbrauchen angeblich pro Kopf 6-8kg Kerzen im Jahr. Uns Österreichern reichen um die 2kg.

Klingt irgendwie ein wenig nach Biedermeier (1815-1848). Das stand auch für Rückzug ins Idyll und ins Private. Ist es das, was uns glücklicher macht? Das irritiert mich und interessiert mich zugleich.
Ich war diesen Monat ein paar Tage in Fortbildung bei Jesper Juul persönlich. Seine Heimat ist ja bekanntlich Dänemark. Ich habe die Reise genutzt, mir die schöne Stadt Aarhus ein wenig anzusehen und mich inspirieren zu lassen, was es mit diesem Hygge so auf sich hat. Und in der Tat, alle waren sehr freundlich, schienen gut drauf zu sein, kaum wer ging mit gesenktem Kopf, wie es mir in Wien oder Linz oft auffällt, an jeder Ecke wurde ich gefragt ob ich Hilfe brauche, wenn ich verzwickt in google Maps oder einen Plan blickte und überall sah man Menschen die diese letzten Sommertage sichtlich genossen. Freunde, Paare, Familien, Einzelpersonen, die ihre Parks tatsächlich nutzen. In der Wiese liegen, Spiele spielen im öffentlichen Raum, picknicken. Ich habe mir gedacht, die genießen den Sommer, die genießen Gesellschaft. Ich sah viele schlanke Frauen, die sich große Kuchen genehmigten. Ich kam mit welchen ins Gespräch die mir erklärten, die Dänen machen gerne viel Sport, denn dann kann man auch viel Essen, denn das gehört dazu zum Genießen des Lebens… Ich bekam ein klein wenig Einblick, was hygge im öffentlichen Raum sein kann.

Und ich habe viel nachgedacht. Ich erlebe in der Familien- und Paarberatung so viele Familien, die dem Privaten zwar viel zeitlichen Raum geben, es erscheint, als gäbe es nichts außer Arbeit und Familie in ihrem Leben und dennoch wirken sie so garnicht „hygge“.

Aus meiner Sicht fehlt dieser Aspekt des Genießens. In all dem seine Rolle gut erfüllen, die Kinder „richtig“ erziehen, vergleichen, usw. legen wir uns auch im Privaten eine hohe Latte. Das Privatleben und unsere Beziehungen werden zu Projekten. Auch hier geht es um Ziele, um Maßstäbe, ums richtig machen und um Leistung. Wir erwarten und fordern viel von uns selber, von unseren Partnern und Kindern. Freizeit ist Wettbewerb, lebenslanges Lernen, Reflexion und Entwicklung. Der Rückzug ins Private ist oft nicht der ersehnte Ausgleich, sondern eine Aneinanderkettung von Pflichten, Erwartungen und Abstimmung. Hygge gibt es höchstens in der zweiten Urlaubswoche, wenn man endlich loslassen kann oder einfach schon erschöpft ist vom Streiten.

Unsere Zeit ist generell geprägt von Wettbewerb, ständiger Erreichbarkeit, Leistung und dem Thema, wie gut man seine Rollen spielt. Überall da draußen. Im Job, im Internet, im Sportclub, in der Schule, usw. Sollte nicht im Privaten eine andere Atmosphäre herrschen? Hier muss ich nicht tun, tun, tun und besser machen, hier darf ich sein. Ich sein, wir sein. Im Moment sein. 
Nur, wer kann denn noch wirklich im Moment sein? 
Hurra, wie gut, wenn man Kinder hat! Die können das nämlich ganz wunderbar, wenn wir es ihnen noch nicht abtrainiert haben. Hier und jetzt im Moment sein: Diese Eiskugel genießen, nicht sauber oder richtig schlecken, das Werfen von Steinen und hören welches Geräusch sie machen, nicht ob das jetzt o.k. ist. Wir müssen nur lernen, statt sie vor uns herzuschieben und mit unseren Ansprüchen zu beglücken, einen Schritt hinter ihnen die Welt zu bestaunen und im Moment zu sein. Ich bin o.k. , Du bist o.k. Hier sind wir geborgen und geliebt. Hier dürfen wir das Leben genießen. Eltern, genießt eure Kinder! Paare genießt Eure Partner! Freunde genießt Eure Freundschaft! Der Papst der Gelassenheit Jesper Juul liefert uns dafür viele Zugänge. Alles klar, er ist ja ein Däne!

Ich habe keine Angst vorm Biedermeier, hygge ist kein „lasst uns zuhause verstecken“ Trend, keine „zurück an den Herd“ Idee. Es erinnert nur: Freunde haben, Familie haben, Beziehungen leben ist zutiefst privat. Wir sind Privatpersonen mit Privatleben. Lasst uns dran denken, dass die Leistungsgesellschaft außerhalb dieser Beziehungen stattfindet. Wir brauchen ein wenig Gemütlichkeit, Wohlbefinden, Geborgenheit und Genießen. Das ist die Basis für unsere physische und psychische Gesundheit und für das Gelingen von Beziehungen. Das heißt aber keinesfalls volle Harmonie im Privaten! In jeder guten Beziehung wird gestritten, nur dann nehmen wir einander ernst, nur dann schützen wir unsere Integrität, unsere Grenzen, nur so sehen wir, dass jeder andere Wünsche und Bedürfnisse hat. Hygge heißt dies zulassen und leben, in vollen Zügen. Hier, heute und jetzt. Menschen mit Kindern haben den Vorteil, dass sie jemand täglich dran erinnert. Nehmen wir uns diese Einladung zu Herzen.

Ich freue mich, wenn ich Dich, Euch ein wenig begleiten kann, mehr hygge in euer Leben zu bringen.
Oft reichen kleine Impulse.

Herzlichst
Ruth Karner